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Die Flucht
Idee: Manu Koch/Fledertai
Autor: Fledertai/Manu Koch
„Laufen“, das war alles, was sie dachte, alles, was sie tat! Sie mobilisierte alles, was ihr Körper noch herzugeben im Stande war – und alles war nicht mehr allzu viel… Ihr war schwindelig und Übelkeit kroch aus ihrem Bauch herauf. Ihr Körper war es nicht mehr gewohnt, ihren Befehlen zu gehorchen. Er wehrte sich mit stechenden Schmerzen in den Armen und Beinen und einem dumpfen Hämmern hinter der Stirn. Am liebsten hätte sie sich einfach fallen lassen – gerade dort, wo sie stehengeblieben wäre. Einfach aufgegeben und einen Augenblick lang, die frische, reine Luft und die Freiheit genossen…
Aber sie lief weiter, immer weiter! Nicht, weil sie wollte, weil sie musste! Jedes Hindernis, das sie stürzen ließ, verringerte ihre Chance zu entkommen und zu überleben! Es war stockfinster hier im Wald. Lief sie überhaupt in die richtige Richtung? Was, wenn sie die ganze Zeit im Kreis lief? Oder noch tiefer ins Dickicht hinein? Warum hörte sie ihn nicht? Er musste außer sich sein vor Wut über ihre Flucht! Sie wusste nicht, was sie überhaupt noch voran trieb. Vielleicht Hoffnung, vielleicht Angst? Sie wurde den Gedanken einfach nicht los, dass er sie jeden Moment einholen und packen würde!
Aber genauso gut war es möglich, dass sie ihm in dieser Dunkelheit direkt in die Arme lief. Er kannte diesen Wald in und auswendig, da war sie sich sicher. Plötzlich blieb ihr Fuß an einer Wurzel hängen und sie fiel der Länge nach ins Dunkel. Der Aufprall war nicht allzu hart, aber in ihrem linken Knöchel spürte sie einen reißenden Schmerz und ihre linke Hand pochte! Mühsam rappelte sie sich auf und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Da überkam sie eine Erinnerung:
Ihr Gefängnis. Sie, betäubt vom Schmerz in ihrer Zelle sitzend. Er saß in der Mitte der Halle, zu der alle Zellen führten, in seinem Lehnstuhl und betrachtete amüsiert das Schauspiel. Ein junger Mann, sein jüngstes Opfer, unternahm den verzweifelten Versuch zu entkommen. Aus zahlreichen Wunden blutend und mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er verzweifelnd, die brüchige Wand hinaufzuklettern. Doch er schaffte jedes Mal nur rund einen Meter, dann ließ seine Kraft nach und die Schmerzen wurden zu groß. Das Schlimmste war, ungefähr zwei Meter über ihm war ein offener Gang, der in die Freiheit führte. Er saß ruhig in seinem Stuhl und betrachtete sein Opfer voller Neugier. Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis der junge Mann endlich aufgab. Langsam stand er auf, packte sein Opfer, hob es hoch und sagte: „Sieh nur, da geht es in die Freiheit. Du musst nur deinen Arm ausstrecken, um hinein zu kriechen.“ Der junge Mann aber war viel zu schwach, um sich überhaupt zu bewegen!
Schließlich schleifte er sein Opfer in die Zelle neben ihr und verschloss die Tür. Dann sah er zu ihr hinein und meinte grinsend: „Nicht wahr, er hatte seine Chance!“ Was, wenn er nun auch irgendwo lauerte und sich an ihrem Leid ergötzte und nur darauf wartete, dass sie aufgab? Sie musste weiter, irgendwann musste sie ja aus dem Wald heraus sein! Vom Laufen war mit dem verletzten Knöchel allerdings keine Rede mehr! Sie humpelte und schlurfte über den unebenen Waldboden.
Oh Gott, sie war zu unsicher auf den Beinen und viel zu langsam, er würde sie einholen, das war sicher! Dann würden die ganzen Torturen von vorne beginnen, die Hölle würde sich erneut für sie öffnen.
War sie ihm wirklich für nichts und wieder nichts entkommen? Stumme Tränen liefen über ihr Gesicht, sie versuchte, sich zu konzentrieren, irgendetwas zu erkennen, woran sie sich orientieren konnte. Es war sinnlos! Sie blieb einfach stehen und schloss die Augen. Sie konnte selbst kaum glauben, dass sie das wirklich tat! „So, nun ist die Show vorbei“, dachte sie. „Mehr werde ich dir nicht bieten! Wenn ich schon sterbe, dann in Freiheit!“ Was war das? Ein leises Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Es schien weit entfernt und ähnelte einem Brummen. Sie öffnete die Augen. Mein Gott, was war das? Aus den Augenwinkeln hatte sie so etwas wie ein Licht gesehen. Doch nun war es fort. Eine Täuschung? War das eine seiner kranken Ideen? Sie ging vorsichtig weiter. Das Geräusch schien sich zu nähern. Es kam ihr bekannt vor… Da! Wieder dieses Licht! Zwei-, dreimal hatte sie es gesehen! Ja, sie kannte dieses Geräusch, doch ihr Verstand weigerte sich noch, es wiederzuerkennen. Schwerfällig humpelte sie weiter. Auf einmal fiel es ihr ein! Ein Auto! Das Brummen war das Geräusch eines Motors! Diese Erkenntnis versetzte ihr einen ungeheuren Adrenalinstoß! Halb fallend, halb laufend bewegte sie sich auf das Geräusch zu. Wieder sah sie das Licht, es waren die Scheinwerfer des Wagens.
Dort vorne musste es eine Straße geben. „Oh bitte Gott, oder wer immer, hilf mir“, dachte sie. Was, wenn sie die Straße nicht rechtzeitig erreichte? Es war eine einsame Gegend, hier kamen bestimmt nicht viele Wagen vorbei. Laut schluchzend vor Angst und Erschöpfung schleppte sie sich weiter. Nur noch ein kleines Stück… „Oh, bitte!“ Aus dem Wald führte ein kleiner Abhang auf die Straße. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte viel zu viel Schwung und keine Kraft, um ihren Sturz abzufangen. Mit einem ersticktem Schrei stürzte sie auf die Straße – direkt vor den Wagen! Durch den harten Aufprall verlor die junge Frau auf der Stelle das Bewusstsein. Ihr Kopf knallte voller Wucht gegen die Motorhaube des Wagens und ihr Körper flog im hohen Bogen auf die Straße. Sie blieb bewegungslos liegen.
Der Fahrer des Wagens machte eine Vollbremsung und konnte gerade noch rechtzeitig stoppen. Eilig stieg er aus und beugte sich über die leblose Gestalt. Sie hatte eine große Platzwunde am Kopf, die stark blutete. Ihr linkes Bein war gebrochen, der Knochen war zu sehen und auch ihre linke Hand war auf der Stelle angeschwollen und blau angelaufen. Er fühlte ihren Puls. „Zu schwach“, sagte er zu sich selbst. „Sie muss sofort ins Krankenhaus.“ Er lief zu seinem Wagen und suchte sein Handy. Irgendwo musste es doch sein. Als er die Nummer des Notrufes bereits gewählt hatte, merkte er, dass der Empfang nicht ausreichte. Die Verbindung wurde abgebrochen. „Verdammter Mist“, fluchte er. Der Mann sah sich um. Er konnte nicht davon ausgehen, dass hier in der nächsten Zeit ein Auto vorbei kam. Es war eine einsame, verlassene Gegend. Was suchte diese Frau um die Uhrzeit in solch einer Gegend? Es half alles nichts. Er musste sich selbst darum kümmern, die verletzte Frau ins Krankenhaus zu bringen. Zum Glück kannte er sich aus beruflichen Gründen mit der menschlichen Anatomie aus, allerdings waren seine Patienten immer tot. Er arbeitete als Gerichtsmediziner im städtischen Leichenhaus. Der Mann untersuchte sie schnell und sachlich, überzeugte sich davon, dass weiter nichts gebrochen war, und hob die Frau dann vorsichtig hoch. Er trug sie zum Rücksitz seines Randrovers, deckte sie mit seiner Jacke zu und fuhr los. Sie rührte sich nicht, die ganze Fahrt bis zum Krankenhaus blieb sie bewusstlos. Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde und er hofft, dass sie keine inneren Blutungen hatte. Schnell stieg er aus dem Wagen und lief in die Notaufnahme.
Es dauerte nicht lange, bis zwei Pfleger mit einer Krankentrage am Wagen erschienen, begleitet von einem Arzt. Vorsichtig wurde die junge Frau aus dem Wagen gehoben und auf die Trage gelegt. In diesem Augenblick öffnete sie kurz die Augen. „Wo bin ich?“ Der Arzt griff beruhigend nach ihrer Hand. „Keine Angst, wir werden Ihnen helfen.“ Sie verlor wieder das Bewusstsein und fiel in einen unruhigen Schlaf. „Ich bin froh, dass du heute Abend Dienst hast und sie untersuchen konntest.“ Der Arzt reichte ihm eine Tasse heißen Kaffee, herrlich, die konnte er gut gebrauchen. Dankend nahm er einen Schluck und spürte, wie die wohlige Wärme langsam in seinen Körper zurück kam. „Sie hatte wirklich Glück, außer der großen Wunde am Kopf und den beiden Brüchen fehlt ihr wohl nichts. Wir müssen aber noch ein paar Ergebnisse abwarten. Ihr Kopf wurde geröntgt, sie hat eine schwere Gehirnerschütterung und erlebt deswegen eine Art Trauma. Das wird aber vorüber gehen, da haben wir gute Aussichten. Sie braucht einfach Ruhe.“
Der behandelnde Arzt sah sich die Röntgenbilder an. „Wie ist dieser Unfall überhaupt passiert?“ Der Arzt sah ihn fragend an und griff nach seinen Zigaretten. „Ich weiß auch nicht, es ging alles so schnell. Ich wollte von der Arbeit nach Hause fahren, war gerade im Waldschutzgebiet, als sie mir vor den Wagen lief. Was heißt lief, sie fiel eher, sie ist wohl den Abgrund runtergefallen, direkt auf die Straße und mir vor den Wagen.“
Der Arzt sah ihn lange an. „Sie sieht ziemlich ungepflegt und fertig aus, als ob sie sich Wochen nicht gewaschen hätte. Die Haare sind total verfilzt und ihre Kleider sind zerrissen und schmutzig. Sie sieht wie eine Obdachlose aus.“ Er stand lange an ihrem Bett und sah sie an. Das schlechte Gewissen plagte ihn, obwohl er an dem Unfall eigentlich keine Schuld hatte. Er war nicht zu schnell gefahren und hatte sie wirklich nicht vorher sehen können. Trotzdem fühlte er sich für sie verantwortlich. Die junge Frau schlief immer noch. Ihr Kopf war verbunden und der Arm, ihr Bein in Gips. Sie tat ihm so leid. Was sollte aus ihr werden, wenn sie das Krankenhaus wieder verlassen konnte?
Sie hatte keine Papiere bei sich, keine Handtasche, nichts! Sollte sie wirklich auf der Straße leben? Er stellte sich das schrecklich vor, sie war noch so jung, sah so unschuldig aus. Er schätzte sie auf Mitte 20, vielleicht Anfang 30. Im Schätzen war er noch nie gut gewesen. Plötzlich bewegte sie ihren Kopf, ganz langsam, als ob sie schlimme Schmerzen hätte. Er trat näher an ihr Bett. Die junge Frau öffnete ein klein wenig die Augen. Er versuchte ein Lächeln. „Wie fühlen Sie sich?“ Sie stöhnte leise. „Mein Kopf tut mir so weh, als ob ich gegen eine Wand gelaufen wäre.“ Er lächelte scheu. „Es war sogar noch etwas schlimmer, sie sind vor meinen Wagen gelaufen.“ Sie sah ihn mit großen Augen an. „Wer sind Sie?“
Er reichte ihr seine Hand. „Mein Name ist Darren.“ Er hatte einen leichten Handschlag. Darren zog sich einen Stuhl heran und setzte sich vor ihr Bett. Ohne abzuwarten, dass sie ihren Namen sagte, begann er zu erzählen, was seit dem Unfall geschehen war. Von ihren Untersuchungen, der schweren Gehirnerschütterung und ihrer großen Wunde am Kopf, die genäht wurde. „Sie können bestimmt in zwei, drei Wochen wieder nach Hause. Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie angefahren habe, aber glauben Sie mir, ich konnte Sie wirklich nicht vorher sehen. Sie sind mir praktisch vor den Wagen gefallen.“
Er schluckte. Die Frau versuchte ihren Kopf zu drehen, die Schmerzen waren aber zu groß und sie gab schnell auf. „Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern. An gar nichts. Mein Kopf schmerzt umso mehr ich nachdenke.“ Darren dachte an die Worte seines Freundes, der das Mädchen untersucht hatte. Die Gedächtnislücken kamen wohl vom Aufprall und der schweren Gehirnerschütterung. „Das ist völlig normal, nach solch einer Kopfverletzung, die Erinnerungen werden sich wieder einstellen.“ Er versuchte sie zu beruhigen. Darren sah auf die Uhr. „Tut mir leid, ich muss auf die Arbeit, es ist schon fast 7 Uhr morgens.“ Sie nickte leicht. „Waren Sie die ganze Nacht bei mir?“ Er bejahte die Frage. „Soll ich jemanden anrufen und Bescheid sagen, dass Sie im Krankenhaus sind?“ Sie überlegte kurz. „Ich weiß nicht, mein Kopf ist so leer, so ohne Erinnerungen, als ob der Aufprall alles zerstört hätte. All meine Gedanken und Erinnerungen.“ Diese Erkenntnis machte sie traurig. Darren gab ihr zum Abschied die Hand. „Haben Sie etwas Geduld, das wird auch wieder anders. Ich werde heute Nachmittag noch mal nach Ihnen sehen.“ Sie wollte nicht, dass er sich dazu verpflichtet fühlte. Wenn der Unfall wirklich so war, wie er es geschildert hatte, gab es keinen Grund, warum er sich so um sie kümmerte und bemühte. „Das brauchen Sie nicht, ich werde das schon schaffen. Sie haben wirklich keinerlei Verpflichtungen mir gegenüber“, sagte sie leise. Er ging zur Tür. „Das sehe ich etwas anders und deshalb werde ich heute nochmal wiederkommen.“
Bevor er die Tür hinter sich schloss, sah er noch einmal zurück. Sie war wieder eingeschlafen.
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